Thursday 29 January 2015

KAPITEL 7

Mittwochs und sonnabends gab es keine Schularbeiten auf, da war Dienst. Wenn es hieß: "Sportzeug ist mitzubringen", wurde geboxt. Für Pimpfe gab es extra dicke Handschuhe, damit es nicht so weh täte. Aber es reichte.

Da war das Marschieren schon angenehmer. Auf der Reiferbahn, unter Kastanien mit strammen Knospen, lernten wir den Unterschied zwischen Kommando und Ankündigungskommando. Wir begriffen, daß die Kehrtwendung auf dem linken Hacken zu machen ist und daß die Kehrtwendung auf dem linken Hacken zu machen ist und daß der Daumen beim "Still-stan'n! angewinkelt werden muß.

Obwohl es in der Vorschrift über den Jungvolkdienst hieß:

Grundsätzlich sind Ordnungsübungen
nicht über die Zeitdauer einer Viertelstunde auszudehnen...

wurden wir meistens den ganzen Nachmittag geschliffen. Im nahen Finanzamt schloß man wegen des Lärms die Fenster, alte Frauen setzten sich woanders hin. Aber Oberlehrer Bartels, der blieb stehn und kuckte zu.

"Halt die Hand da nicht so blöd", sagte Eckhoff, mein Führer; er legte sie mir zurecht. (Bartels nickte.) Sie fühle sich an wie ein Stück Klopapier. Ich sei eine Pißnudel, ob ich das geschnallt hätte?

(Mein Koppel stand immer auf halb acht.)

Lästig war ihm, daß ständig ein kleiner halbirrer Junge um ihn war. Der fragte dauernd, ob er nicht auch mitmachen dürfe. (Bartels schüttelte den Kopf.)

Schließlich packten ihn zwei und warfen ihn mit Schwung über einen Zaun.

Zu Hause wurde ich von meiner Schwester fotografiert. Die Sonne schien, ich mußte blinzeln. "So ist's recht!" rief sie, ich solle mal recht fröhlich dreinschaun. Und: Hände an die Hosennaht!

Abends probierte Ute meine Kluft an. ("Laß das bloß seinen sehn!) Ich schloß ihr das Koppel, die Hose saß ziemlich stramm. Sie marchierte ein paarmal auf und ab und machte "Heitler" vor dem Spiegel. Das Käppi sei pfundig. Dann legten wir uns unter den Tisch. Schön warm war das und mollig. Ob wir uns bei den Pimpfen oft hauten, wollte sie wissen.

An einem Wochenende ging es auf Fahrt nach Doberan. "Dschungedi!" rief mein Vater, "du willst auf Fahrt? Die blauen Dragoner sie reiten?"

"Primig", sagte mein Bruder, ich sei ja direkt ein Hauptkerl. Und meine Mutter sagte: wenn was wär, sollte ich mich an Tante Luise wenden, eine herzensgute Frau, die wohne auch in Doberan. "Mein Peterpump."

Auf dem Diensttbefehl hatte gestanden: "Antreten 14 Uhr, Hauptbahnhof." Unter der Normaluhr war Sammeln. Schuhband, ein kleiner blonder Pimpf, marschierte quer über den Platz, als müsse er Gleichschritt halten. Er machte sogar Schrittwechsel.

Eben stieg Frau Amstgerichtsrat Warkentin schwerfällig in den Triebwagen der Linie 11. (Anhänger kam nicht in Frage, da saßen Arbeiter und rauchten.)

"Ach wissen Sie", hatte sie mal zu meiner Mutter gesagt, "der deutschen Jugend kan heute keiner mehr den Schneid abkaufen."

Alle hatten eine Affen, nur ich nicht. Ich trug einen unförmigen Wanderrucksack. Der stammte noch von der Hochzeitsreise meiner Eltern, 1920 Tegernsee.

Als Decke hatte meine Mutter mit das italienische Plaid mit den Fransen herausgesucht, das sonst im Gästezimmer auf der Couch lag. Weil es sich nicht über den Rucksack schnallen ließ, hielt ich es über dem Arm.

"Schreibzeug ist mitzubringen", hatte es geheißen: ein nach Eau de Cologne riechendes Notizbuch aus der Handtasche meiner Mutter (Goldschnitt) und ein Zimmermannsbleistift.

Über dem granitenen Hakenkreuz, das am Haupteingang des Bahnnhofs angebracht war, erkannte man immer noch die etws verblaßten, aber noch deutlich sichtbaren olympischen Ringe.

Ich rufe die Jugend der Welt!

(Jesse Owens lief zehn zwo und von Wangenheim holte trotz Schlüsselbeinbruchs eine Goldene.)

Eckhoff, unser Führer, sagte, er habe sein Fahrtenmesser angeschliffen. An seinem Koppel hhing eine Meldetasche mit sechs angespitzten Bleistiften. Beim Geländegespiel sollten wir acht geben, daß wir dem Unterlegenen den Brustkorb nicht eindrückten. Das sei schon vorgekommen.

A - e - i - o - u
So würde eine Meldung gemacht.
"Was - wer - wie - wo - tut. Ist das klar?

Als wir noch so standen und auf den Pimpf Habersaath warteten, der sich verspätet hatte - "das iss'n richtiger Teepott" - kamen plötzlich meine Mutter und Ulla unter den Linden der Bismarckstraße hervorgeradelt.

Mit fliegenden Röcken sprangen sie ab, nur eben wollte sie mir auf Wiedersehn sagen.

"Na, Dickerli?" Sie mischten sich mit frohem Blick unter die Pimpfe, und Ulla legte mr die Hand auf die Schulter und meinte, nun sei ich schon ein großer Bub.

Wer der Führer sei, wollte meine Mutter wissen. Der da mit dem braungebrannten Gesicht? Das sei der Sohn von Studienrat Eckhoff? Fein...

Inziwischen war Habersaath herangekeucht.

"Wir sprechen uns noch..."

Es konnte losgehn. Wegen des nich zünftigen Rucksacks, sagte Eckhoff, sollte ich mir keine Sorgen machen. Ich dürfte hinten gehen, dann dächten die Leute, ich sei der Furier.

In Doberan lagen wir in einer Scheune. Man hatte uns stroh hinengetragen. Mein Nebenmann, der kleine Blonde Schuhband, pfiff vergnügt vor sich hin. Heute nacht käm' der Heilge Geist, das sei klar. Arch mit Wichse einschmieren, durchhauen, unter die Pumpe halten. Mit seinen Latzschuhen, deren Sohlen mit sechseckigen Nägeln beschlagen waren, ließ er auf dem Hof Funken springen.

Das Münster mit den alten Klostergebäuden. Eckhoff führte uns hinüber. Deutsches Kulturgut angucken. Vorher noch mal schnell Schuhe putzen. Vor dem Münster stand ein weißer Holzschwan. Der habe "Doberan! Doberan!" gerufen, daher der Name "Doberan". An solchen alten Sagen sei immer das Wahres dran, das könnten wir uns mal merken.
Die Klostermauer habe man im vorigen Jahrhundert als Stenbruch benützt. So etwas gee es unter unserem Führer nicht.

"Alle mal herhören! Wenn wir da nun reingehn, dann sind wir uns bewußt, daß dieser Dom ein Erzeugnis deutschen Geistes ist! "Kunst komme von künden". - Bis weit in den Osten künde die Baukunst deutschen Geist. So hätten wir damals man weitermachen sollen, anstatt immer nach Italien zu ziehen.

"Die Tür ist bestimmt zu, in allen Kirchen sind die Türen immer zu."
Die Tür war offen.
Er ließ uns der Reihe nach vorbeimarschieren, wie die Flaschen in der Fabrik. Schuhe alle sauber? Fuß heben, Steg zeigen! Kein Fleck? Halstuch hinten zum Dreieck gezurrt? Wer nicht spurt bleibt draußen.
Drinnen übte ein Orgelspieler. ("Wir haben Glück.")

Der Küster fragte, ob wir sähen, daß die Pfeiler so emauert wären, als kämen sie von oben herab?
"Kein Mensch weiß, wie sie das damals gemacht haben."
Auf Türme hätten die Zisterzienser absichtlich verzichten, die seien ja auch zu gar nichts nütze.
"O doch", sagte Eckhoff und blitzte ihn an, "o doch".

Der Orgelton verstummte jäh.
"Das ist doch ein Witz!" rief der Organist laut, er hatte sich mehrmals an derselben Stelle verspielt.

Eine weitere Besonderheit der Kirche seien die Grabsteine.

Hier ruhet Herrn von Sallern,
Mein Gott, wat däd hei ballern,
Wenn hei de Buern kloppt!
Nu hewwen sei em hier inproppt.

Offensichtlich hätten sie damals auch Humor gehabt.

In einer nach kaltem Schweiß und Lysol riechenden Turnhalle war bunter Abend.

Wildgänse rauschen durch die Nacht
mit schrillem Schrei nach Nordern...

Zum Kennenlernen, wie es heiß.

Eckhoff trat vor und las Gedichte, Daumen am Koppel, knappe Gesten mit der Faust.

Der Führer spricht
Von Richard Euringer

Was zerstiebe, das war Spreu
und was bliebe, das bleibt treu.

Und was treu geblieben,
könnt ihr sechsmal sieben.

Das bleibt Weizen und nicht Spreu
Damit sä´ich Deutschland neu.

"... Die beiden Maschinengewehre haben den rechten Flügel der erssten Welle mit zweimaligem Hin- und Herschwenken des Laufes erfaßt, und die schwarzen Menschen winden sich brüllend auf der Erde. Etwas höher den Lauf, wenige Striche höher nur... und die zweite Welle... und bevor die Neger überhaupt begriffen haben, was geschieht, ist der ganze rechte Flügel zusammengesackt..."

Drumm, drumm, diri, hei diri diri drumm...

Dann nahm Eckhoff ein anderes Buch, sah kurz hinein, legte es beiseite und sprach in singendem Tonfall:

Über allen Gipfeln
Ist Ruh.
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vöglein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.

https://www.youtube.com/watch?v=wN5gtmtqIoo

"Und nun wollen wir lustig sein!"
Wisse einer´n Witz?
"Was sieht einer halben Kartoffel am ähnlichsten?" - "Die andere Hälfte".
"Was ist egal?" - "Ob das Fenster halb zu oder halb offen ist."
"Was ist der Unterschied zwischen Klavier und Eichhörnchen? - "Stell beides unter einen Baum, was hochrennt, ist das Eichhörnchen."
Hahaha,
hahaha,
hahaha!

Unsern Jubel ruft das Echo uns zurück.
Laßt uns fröhlich sein und lachen,
denn nicht ewig währt das Glück.

https://www.youtube.com/watch?v=cAZTLDfZvdU

Dann mußte einer rausgehen, und dem wurde unter irgendeinem Vorwand Mehl ins Gesicht gepustet.

Scharade: RAUBMORD.
Beim ersten Bild hauten sie sich, beim zweiten Bild hauten sie sich und bei der Zusammenfassung hauten sie sich noch einmal.

Draußen wurde ein Feuer angezündet. Wir kauerten uns in die Runde.

Es sollen verbrennen
im Flug der Flammen
Scheelsucht und Feigheit,
Hochmut und Neid!...

Sonderbar, gerade jetzt fing die Glocke des Münsters auch noch an zu läuten...

...Nacht soll erliegen!
Sonne soll siegen!
Sie schmiede uns erzen
und mach uns gefeit!

Die Herbergseltern traten aus dem Haus.

Über den Himmel huschten Fledermäuse.

...drum reinigt die Sinne zur Herzsonnenwende,
drum eint euch zur Flamme, - seid alle bereit!

Hiermit wär der bunte Abend beendet, sagte Eckhoff. So werde das gemacht: ernst - heiter - ernst.

In der Nacht gab es lange keine Ruhe,
"Laß das, du Sau!"

Eine tote Maus wurde hin - und hergeschmissen.
Das Plaid hart wie Pappe.
Das Stroh piekte, und darunter drückte die Tenne. Es war kalt.
Miesnitzdörfer & Jenssen.
Mit Schrecken dachte ich an den nächsten Morgen. Da würde man sich mit bloßem Oberkörper waschen müssen.

Schuhband knisterte mit Bonbonpapier.
Er kitzelte mich damit an der Nase, machte mir "1000 Stecknadeln" und setzte sich schließlich auf meinen Bauch.
O, das war gut, das war warm.

Schließlich kam Eckhoff und schrie: "Ruhe!"

Wenn er noch einen Ton höre, dann räume er hier auf. Daß er sich nicht auf uns verlassen könne, das enttäusche ihn. Morgen fahre er mit uns Schlitten, darauf könnten wir uns verlassen. Arsch aufreißen, schleifen, bis uns das Wasser im Hintern kocht.

Er hatte eigentlich in die Stadt gehen wollen, deshalb war er so wütend.

Mitten in der Nacht wachte ich auf.
Vollmond schien in die Scheune.
Ich lag auf dem Gang, Plaid weg, kein Stroh.
Lange dauerte es, bis ich meinen Platz gefunden hatte.
War ich denn mondsüchtig?

Am nächsten Morgen wurden Bretter auf Böcke gelegt: Brötchen mit Vierfruchtmarmelade. Der heilige Geist war nicht gekommen.

"Zwei Mann zum Kaffee nachfassen!"
Vater aß jetzt gewiß sein Ei, und Gelbes lief ihm über die Finger.

Dem Habersaath hatten sie die Maus auf sein Brötchen gelegt, der Schwanz hing runter.
Es freue ihn, daß wir Spaß verstünden, sgte Eckhoff.
Ein rechter Pimpf sei immer fröhlich.

Nach dem Frühstück war Antreten.
Was gestern nacht gewesen sei... da schweige des Sängers Höflichkeit, sagte Eckhoff. Schwamm drüber. Aber damit er sehe, was wir für Kerle seien, gehe es heute ins Gelände.
"Ihr nehmt die Fahne, und ihr versucht sie zu klauen."

Wir könnten unsere Knochen numerieren lassen, sagten die von der andern Partei und marschierten, mit den Fäusten drohend, in den Wald.
Wir lieben die Stürme, die brausenden Wogen,
der eiskalten Winde rauhes Gesicht.

Jungenschaftsführer Nickel, Sohn eines Ackerbürgers, meldete sich freiwillig als Späher. Ich sollte sein Melder sein. Ob ich denn überhaupt wisse, wie eine Meldung geschrieben wird? Fragte Eckhoff. A - e - i - o - u? Nein? Teepott! Was - wer - wie - wo - tut.

"Was der da tut, verstanden?"

Der Nickel ließ die Hosen runter, strich das Braunhemd glatt, nahm die Zipfel zwischen die Beine und zog die Hose wieder hoch.

"So, nun kan's losgehn."

Ich steckte das nach Eau de Cologne riechende Notizbuch ein und den Zimmermannsbleistift.

Was - wer - wie - wo - tut.

Gesundheitspaß, Ausweis, Verbandspäckchen, Liederbuch. Alles da.

Zunächst nahmen wir den Weg, den die andern gegangen waren. In der Ferne hörten wir sie lärmen.

Herrlich, diese Natur, nicht?
Der schöne blaue Himmel und die Wolken, wie die da so rüberziehen. "Schade, daß hier keine Auerochsen mehr herumlaufen. Aber das ist bald wieder soweit."
Kriechender Günsel.
Und die Vögel. Ob er wisse, wie "Eichelhäher" auf Platt heißt.

Nickel holte sein Fahrtenmesser heraus. Er sei neugierig, ob man mit dem Fahrtenmesser einen Baum fällen kann. Was ich meinte, ob er es wohl schaffe?
Vielleicht. Aber aufpassen, wohin er kippt.

Aus Borke ein Schiff schnitzen, vorne spitz, hinten grade. In die Mitte ein Loch bohren und als Mast einen Zweig hineinstecken. Aus Moosplacken und Steinen einen Hafen bauen. Einen Tannenzapfen als Leuchtturm. "Schade, daß hier kein Bach ist."

So vergingen Stunden. Weit entfernt hörten wir Gebrüll. Man hatte sich gefunden, auch ohne unser Pirschen.
"Los, hin!"
(Was - wer - wie - wo - tut!)
Die Fahne ist mehr als der Tod.

Bald hatten wir die Pimpfenknäuel erreicht. Ich legte mich auf einen der ächzenden, schwankenden Haufen. Wer da wohl drunterlag.
Eckhoff bückte sich, die Trillerpfeife in der Hand, der wollte das wohl auch gern wissen.
Ich sah Schuhband von einem Baum klettern, er war von der andern Partei.
"Komm, wir beide!"
Wir umarmten uns und schwankten ein wenig. Die andern sollten denken, wir seien gewaltig am Kämpfen. Dann allmählich hilegen, sanft, daß man sich nicht wehtut. Gleich unten liegen, gleich... unten!

Plötzlich kriegte ich einen Blecheimer an den Kopf. Wer weiß, wo der herkam.
Blut tropfte.
"Herrgott, geht doch ein bißchen zur Seite! "rief Eckhoff. (Kopfwunden bluten immer gleich so stark...)

Eckhoff mit dem schmalen, braunen Gesicht und den gleichmäßig verteilten Sommersprossen.
Ich sollte mich am Riemen reißen, raunte er mir zu, ob ich das geschnallt hätte.
Seine grüne Führerschnur hing herunter. Lange, säbelartig gebogene, nach Erde riechende Oberschenkel.
Er setzte mir das Verbandspäckchen auf die Wunde wie einen Hut.

"Steh mal auf - geht's?"
Ja, es ging.
Er schlug mir auf den Rücken.
"Nun haben wir einen Schwerverletzten."
Ich sei ein ganzer Kerl. Auf mich könne man sich verlassen. Er habe auch schon mal geweint.

Meine Mutter zu Hause: Ogott, Junge, was hast du denn gemacht. So kriegt man nun sein Kind wieder..."
Ich dürfte mich sofort ins Bett legen, Knäckerbrot mit Butter und Johannisbeergelee.

Ihr Sohn habe gesagt, ich sei verletzt, fragte Frau Eckhoff am Telefon. Ob es denn schlimm sei? Schmerzen? - Tetanus? Nicht besser rasch noch impfen? Die Hitlerjugend sei in einer Kasse drin, das wisse sie genau. Leipziger Verein Barmenia? Ob sie da mal anwecken solle?

Mein Vater meinte, ich sei wohl ziemlich iben, was? "Total verbumfeit, Herrgott, wie isses möglich."
Robert sagte, mit dem Kopfverband säh ich aus wie der Nizzam von Heiderabad.
Er trug ein goldenes Kettchen am Revers, das Abzeichen des Jazzklubs, den er mit seinen Freunden gegründet hatte. "RSBB" nannte sich der: Rostocker Swing Boys Band.
So wohl hatte ich mich lange nicht gefühlt.



Tadellöser & Wolff - Walter Kempowski - 7. Kapitel

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Friday 23 January 2015

KAPITEL 6

Dicker Krahl hatte ein großes Zimmer ganz für sich allein. Zu ihm ging ich fast jeden Tag. Unter dem Fenster eine AEG-Mignon. Die Buchstaben mußte man auf einer Tafel suchen und mit dem Typenkopf auf das Papier hauen. In der Ecke ein Bett.

"Durch das Land der Skipetaren".

In der Mitte des Zimmers stand ein ausgezogener Tisch, darauf war eine Stadt aus Bauklötzen aufgebaut, mit Läden, Litfaßsäulen und einem Rathaus. Klein- Winzigerode. Die blieb abends stehn.

Ich war Spediteur. Drei Märklin-Fernlaster mit weißer Rautenleiste an der Ladefläche und aufsetzbarer Leinenplane. Sie rückwärts in den Hof zu lotsen und auf den Millimeter genau nebeneinanderstellen. Reifenspurenhinterlassen... Krubbe, Spediteur. - Ich hätte fünf von den Dingern haben mögen oder zehn. Den Kopf auf die Tischplatte legen, dran entlangkucken, Kühler an Kühler.

Dicker Krahl war der Bankier, er verwaltete die Konten. Das von Klaus Greif, der gute Geschäfte als Baustoffhändler machte und das von Manfred, dem Tankstellenbesitzer. Von jeder verbuchten Summe berechnete er 6%.

"Prozentrechnen, wie macht man das?"

"Durch 100 mal 6; kaprisco, kaprivi, Kapernaum?

"Yes. It's clear."

Manfredwar schlecht dran. Niemand kaufte sein Benzin. Die Autos schob man ja. Eines Tages brachte er eine Pipette mit. Damit wollte er den Autos Wasser einspritzen. Solange sie die Feuchtigkeit hielten, dürften sie fahren, schlug er vor. Dies wurde abgelehnt.

Dicker Krahl war außerdem Bürgermeister, Richter und "Pozelist". Wenn man von ihm was wollte, holte er erstmal die Taschenuhr heraus, wie spät es denn überhaupt sei.

Er wohnte im Seitentrakt des Rathauses. In seiner Garage ein offener schwarzer Mercedes, ein 6-Sitzer, im Katalog als "Führermercedes" bezeichnet, den hatten wir von Struck geliehen. Das Rathaus mit hohem Turm, oben drin ein Wecker, der zum Aufziehen herausgenommen wurde. Alle Gebäude waren oben offen, damit man die Halmamenschen auch führen konnte. Da saßen sie in komfortablen Knetgummisesseln, an Knet gummitischen, tranken aus Knetgummitassen und aßen Knetgummitorte, grün mit gelben Tupfen: "Knetgummin". Sie trugen Papierkleider, die es in einem Warenhaus zu kaufen gab.

Zum Kaffee kam Frau Krahl nach oben gekeucht, dick, in Familienkorpulenz. Sie stellte uns Schmalzbrote hin, und jeder kriegte eine Tasse Schokolade. Das Schmalz war erstklassig, nicht zuviel Äpfel drin, die Grieben kroß und aromatisch.

"Speelt ji hier ok schön?"

Herr Krahl,ebenfalls dick, cholerisch, ließ sich selten sehen. Er besaß ein kastenförmiges Auto mit Gardinen. "Na, du Maihecht?" sagte er immer zu mir, und einmal, als ich ihn fragte, ob ich mit Fritz spielen könne: "Hüt nich; sünd all twee bäben."

Eine Zeitung wurde herausgegeben und ein Museum gebaut. Klaus Greif errichtete es aus Anker-Steinbaukästen, dauerhaft und repräsentativ: vor der Front eine Reihe hoher Säulen, einen Knetgummifries am Giebel: "Schlacht bei Sparta."

Das Museum hatte verschiedene Abteilungen, in denen hingen Zigarettenbilder ("Die Malerei der Gotik"). In einem Saal, zu dem man über einen Innenhof gelagte, waren WHW-Plaketten wie Epitaphe angebracht. DER SAAL DES 1. MAI. Im Innenhof zwei präsentierende Lineol-Soldaten als Skulpturen.

Zur Einweihung des Museums erschienen die Halmamenschen vollzählig. Alle Grünen ordneten wir zu Militär. Die Blauen waren Marine aus Kiel, die Roten freiwillige Feuerwehr. Schwarz die SS.

Das alter ego von Bürgermeister Krahl fuhr im Führermercedes die geschmückte Hauptstraße entlang, gefolgt von einem Rennwagenkordon in Silber. Gelbe Halmasteine als SA umsäumten die Fahrbahn.

"Heil!" riegen wir mit Flüsterstimme, das klang laut und entfernt zugleich.

Sollte man den Marktplat nicht lieber neu gestalten? Rathaus, Museum und - , ja: Kirche oder Kino, das war die Frage. Dicker Krahl besaß eine Lanterna Magica. Das gab den Ausschlag: Kino. Manfreds Tankstelle müsse dann allerdings verschwinden.

"Immer ich", sagte er.

"Du bist dann eben ein Jude..."

Manfred griff in die Kasse des Bankiers. Klaus Greif rief: "Halt!" Bis auf weiteres nahm er ihn in den Schwitzkasten. Der Bürgermeister warf Manfreds Halmastein-Doulble ins Gefängnis, eine mit Streichholzgittern versehene Knetgummi-Kiste.

Die Mauern der neuen Tankstelle wurden eingerissen, das Knetgummimobiliar der Wohnung auf dem Marktplatz versteigert. "Wir wissen ja gar nicht, wie lange du uns schon bestohlen hast!"

Was sollte man mit seinem Halmastein tun? Kopf abhacken? Aus dem Fenster schmeißen, verbrennen, eingraben? Das sollte Sache eines ordentlichen Gerichtsverfahrens werden.

Manfred rief, er müsse jetzt nach Hause gehn.

"Hähä! Wir lassen dich man nicht!"

Doch, wir müßten ihn lassen! Er habe seine Schularbeiten noch nicht gemacht, er müsse zum Zahnartz! Sie kriegten Besuch!

Klaus Greif warf ihn auf das Bett.

"Jetzt sollst du mal sehen, was dir passiert!"

Davor bewahrte ihn jedoch Frau Krahl: "Klausi, din Vadder hett allwedder anweckt, du sast na Hus kamen..." sagte sie.

Was ich meinte, fragte Manfred auf dem Nachhauseweg, was Klaus Greif wohl mit ihm vorgehabt habe? Ihn fesseln? Auf den Oberarm schlagen? Auf dem Oberarm gäbe es eine Stelle, wenn man die treffe, dann sei der Arm'ne ganze Zeit lahm. Oder was sonst? Vielleicht peitschen? Was meinte ich? Ob ich die Bastonade kenne? Da würden die Füße hochgebunden und mit dem Stock draufgeschlagen. Das stelle er sich eigentlich nicht so schmerhaft vor. Auch stranguliernen, das könne er aushalten. Aber den Arm in kochndes Wasser halten und dann "den Handschuh aufziehen"... Das wär doch wahnsinnig! OB dann die Adern auch mit abgingen oder ob die so oberhalb des Fleisches lägen?

In "Zwischen Rot und Weiß" würde beschrieben, wie sie Gefangenen die Eier mit zwei Zeigelsteinen breitquetschen.

Mein Zuspätkommen wurde zu Haus mit Wohlwollen hingenommen, ich erzählte ja von Geldüberweisungen und von Schecks.

Ob scho mal einer pleite gemacht habe? wollte mein Vater wissen, so wie Herr Lange zum Beispiel, den kennte ich doch, nicht wahr? Das wäre der, der sichh und seine Familie jetzt kümmerlich vom Klavierstimmen ernähren müßte. ("Der arme Mann.")

Angebot und Nachfrage regle die Wirtschaft, der Schwacche werde zerquetscht. Klare Sache und damit hopp!

Herrlich, daß ihr so schön spielt", sagte meine Mutter, "fabelhaft."

Das sei ja das Schade, sagte mein Bruder, daß er damals keinen so guten Freund gehabt habe: Den halt dir man warm."
 
 
Tadellöser und Wolff - Walter Kempowski - 6. Kapitel








 
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Friday 9 January 2015

KAPITEL 5

Als wir dann zur Oberschule kamen, holte Manfred mich jeden Morgen ab. Gewöhnlich saßen wir schon alle am Frühstückstisch, wenn es klingelte. ("Was macht meine Haut?") Das dicke Bunzlau mit der bunten Kaffeekanne, auf dem Pfingstmarkt gekauft. Jeder hatte sein eigenes Gedeck, die andern waren "giftig".

"Iss Waller da?", fragte Manfred draußen.
"Das wid er woll", antwortete das Mädchen und ließ ihn herein.

Während ich meine zwei Brötchen mit Butter bestrich - mein Vater grabbelte sich stets die krossesten - saß Manfred in einer Nische, die durch das Treppenhaus, das Baumeister Quade vom Eßzimmer abgezweigt hatte, entstanden war; die Beine um den Stuhl geschlungen. Neben ihm die sechs ineinandergeschobenen Beisetztischen und über ihm ein Bild von den Ostseedünen bei Graal. In Graal hatte sich meine Eltern kennengelernt. ("Immerlos wollte er mich küssen, und ich dacht' ich krieg' davon ein Kind. War ja man ein Aap.")

Ob ich Relli gemacht hätte?

Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt
der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt

https://www.youtube.com/watch?v=bVW-Te3wRRU

Gestern seien die Gartenschau-Marken herausgekommen. Dunkelgrün und purpur. Ich würde wohl keine mehr abkriegen. Der Block von München-Riem koste heute schon 15 Mark und den hätte ich auch nicht.

Wie heiße der? wollte mein Vater wissen, ihm lief das Eigelb über die Finger.

"München-Riem? Was soll das bedeuten?

Dick Butter und dünn Johannisbeergelee aß ich am liebsten. Einstippen in Milchkaffee war erlaubt.

Wo Manfreds alter Herr gedient habe, wollte mein Vater wissen. Soso, bei der Artillerie. (Kavallerie wäre besser, Marine erheblich schlechter gewesen, denn: "Die haben uns damals verraten.") Bei der Artillerie müßten sie gut rechnen können. Er habe die Leute immer bewundert, die könnten ja gar nicht sehen, wohi sie schießen. - Die hatten ja auch andere Helme. Zu meiner Mutter sagte er was von St. Quentin "St. Quentin", das sprach er so aus, wie es geschrieben wird.

Meine Schwester aß saure Gurken und trank dazu lauwarmes Wasser. Sie steckte ihren Ratzefummel ins Fülleretui und riß den Reißverschluß zu.

"Nun tu ir die Liebe und melde dich schön", sagte meine Mutter und reichte ihr das blaue Oktavheft, in das sie zuvor gewisse notwendig gewordene Eintragungen gemacht hatte.

Ich mußte miene Kalktablettenehmen und einen Löffel Lebertran.

Mein Vater saß schon wieder über dem Kalenderblatt 1689, die Franzosen verwüsten Heidelbert.

"Hm, hm." Ich solle mein Schulbrot auch ja aufessen, es wegzuwerfen sei eine arge Unsitte. Robert sagte, arme Leute hungerten, und ich schmisse mein Schulbrot weg, das sei doch miteinander schier nicht zu verquicken.

Auf dem Schulweg - "Seifenheimchen" - kam man an einem sehr schmalen Haus vorbei, Anno 1903 stand über der Tür. Im Fenster lagen stets zwei Pekinesen, wenn sie uns sahen, kläfften sie wie rasend. Gleich daneben die ausgebrannte Syagoge, mit einem zerbrochenen Davidsstern am gußeisernen Tor.

"Da wohnen noch richtige Juden", sagte Manfred. Er habe im Adreßbuch nachgeschlagen. "Abraham Glücksmann Synagogendiener."

Im Patriotischen Weg habe man abgeschnittene Finger gefunden, das Werk Israels. Die mordeten Christen, zerstückelten sie und schmissen sie weg. Das wär für die eine gute Tat. In jeder Synagoge existiere ein verkrusteter Blutkeller. Dafür kämen sie in 'n Himmel. Und auf dem jüdischen Schlachthof würden die Tiere alle erstmal gemartert und dann langsam zu Tode gequält.

Auf der Höhe der Hilfsschule, dem "Margarinegymnasium" überholte uns Robert. Er ging dazu auf die andere Straßenseite hinüber. Schon von weitem hatte man ihn die Uhr aufziehen hören. Er trug eine winzige Aktentasche, eine Friseurtasche, wie er sie nannte. Wenn man darüber lachte, sagte er: "Am vielen Lachen erkannt man den Narren."

Toni Leo, Heilgymnastin. Bei Café Drude warf er seine Zigarette hinter den Telefonkasten. Da war es nicht mehr weit, da begegnete einem womöglich ein Lehrer.

Unser Gymnasium hieß jetzt "Schule bei den sieben Linden".

"Wie blödsinnig", sagte mein Vater.

Statt Sexta, Quinta, Quarta, mußte man eins, zwei, drei sagen. Das Tragen von Schulermützen war verboten.

In der Halle eine mit Tinte bekleckste Laokoon-Gruppe. Liegengebliebene Jacken wurden den beiden Knaben übergehängt.

"Heb das Papier da mal auf."

An der Wand eine aus bunten Nägeln zusammengehauene Hitlerjugendraute. Antreten Mittwoch 15 Uhr, Sportpalast.

"Nimm die Hand aus der Tasche, Jung."

Bei der Aufnahmeprüfung in die Oberschule hatte ichh "weil" mit "h" geschrieben. Auch die Porzellan-Püppchen, von denen im WHW-Diktat die Rede war, gelangen mir nicht recht. Aber selbstvertändlich wurde ich aufgenommen. Ich war doch der Sohn von "Körling". (17 Schock Eier kosten 51 RM; wieviel kosten dan 2 Mandeln?)

Was unsere Väter on Beruf sind. Bankdirektor, Landrat, Fliegeroberingenieur. "Schiffsmakler und Reeder", sagte ich. "Iss eins nicht genug?" wurde da über die Brulle gefragt. Abteilungsleiter beim Beamtenheimstättenerk, das war nicht sehr attraktiv.

Zwei Lehrer standen zur Auswahl: ein kleiner dicker mit Glatze und ein größerer finsterer mit einem Kopf wie ein Uhe. Der kleine Dicke, so stellte ich mir vor, der müsse sehr gemütlich sein. Bloß nicht zu dem Uhu kommen!

Der Dicke mit der Glatze zog mit den Seinen ab, ich kam natürlich zu "Hannes", dem Uhu. Typisch."

"Nach Johannesbeeren müßt ihr ihn mal fragen", rieten ältere Schüler.

Bei Hannes hatten wir dann alles, inklusive Religion. Ich war gleich fein heraus, weil ich den Gegensatz von "absolut" wußte. Güngstig wirkte sich auch aus, daß Hannes meinen Bruder nicht gehabt hatte, der war bei Kniese, dem kleinen dicken gewesen.

Immer wieder sprach Hannes über das Gotterlebenim Kriege. Im Unterstand, da habe es sich gezeigt. Am Revers seiner grünen Jägerjoppe trug er das Eiserne Kreuz in winzigeer Ausführung. Einmal fehlte es, hatte er es verloren? Ich meldete mich.

"Du bist kurz vor dem silbernen Löffel", meinte er da, und das war weiß Gott kein Lob.

Hannes war, wie mein Vater, Mitglied des Vereins für Rostocker Altertümer. Er bekomme bald den Doktor ehrenhalber, wurde gesagt, auf Zetteln habe er Tausende von Straßen- und Flurnamen katalogisiert. Der Borenweg, in dem er wohne, müsse eigentlich Boarenweg heißen, und das habe mit Bären garnichts zu tun. "Boaren", das sei nur eine lustige Bezeichnung für alte Stadtwächter. Borenweg 6 wohne er, das sollten wir uns merken, wenn mal was wär.

Seestadt Rostock, 121.300 Einwohner, Industrie-, Handels- und Universitätsstadt, am linken Ufer der unteren schiffbaren Warnow, 15 m ü. M.

"Blutstraße", das komme von "blot"= bloß.

Diese Straße sei nicht gepflastert gewesen, deshalb "blot". Wir glaubten wohl, da sei das Blut vvon Geköpften geflossen. Die Marienkirche sei, so lernten wir, 10 Rechenkästchen breit und 12 Rechenkästchen hoch, das Querschiff nicht eingerechnet. Bei der Petrikirche verhalte es sich 4:16. Deren Turm habe einen Buckel: so! Und er machte uns den Buckel vor, als wolle er dem Winde trotzen.

Am leichtesten war das Rathaus zu zeichnen: zwischen den sieben Türmchen je zwei Kasten Abstand.

Die Stadtmauer werde renoviert, ob wir das schon gesehen hätten. Jeden Ziegel reinigten sie mit einem Sandstrahlgebläse. "Fabelhaft, wie der Hitler das macht."

Standartengotik! Sieghaft, jauchzend schnellen die Senkrechten empor...

Als Naturfreund ließ er uns das Skelett des Walfisches zeichnen, was wir nur mit Blaupapier schafften. Die Bucher waren für imer ruiniert. Walfische gehörten zur Gattung der Säuger, sie brächten ihre Jungen lebend zur Welt, einsam im weiten Ozean. "Sieh mal, wie der Schäfer hämisch grinst..."

Im übrigen: Wir Menschen würden es bald so weit bringen, daß diese Tiere ausstürben. Abgeschlachtet; brutal, rucksichtslos. Widerlich.

Die Störche würden auch immer weniger, und die Kolkraben.

Der Eichelhäher, wie der wohl auf Plattdeutsch heiße. Da seien wir wohl gespant, was? Eickelhäcker vielleicht? Nein, "Markwart", heiße der.

Wisente würden jetzt wieder ausgesetzt. Da ginge es aufwärts. Erfreulich sei, daß die frisch ausgesetzten Tiere bereits flüchtig würden. Das sei ein gutes Zeichen.

Aufsätze verfaßten wir über die Wiese im Juni. Während wir sie schieben, war Hannes mit einem Artikel über ein ähnliches Thema beschäftigt, oben, auf dem Katheder. Der erschien am Sonnabend im "Rostocker Anzeiger". Seine Schularbeiten seien das, sagte er. Er müsse auch Schularbeiten machen. Das seien seine Schularbeiten. Ungehalten war er, wenn man "schon fertig" war und ihn störte.

In den Rechenstunden hob er zuweilen unvermitteln beide Arme; wie ein Priester. Aufspringen: Kopfrechnen, eine Seite gegen die andere. Da konnte man sich mal so richtig ausbrüllen. Als letzter blieb meist Blomert stehn. Der Blomert sei ein Saboteur der Arbeit, hieß es. Der müsse sich mal das Buch vornehmen und lernen das. "Werd doch Friseur!"

An der Tafel erklärte Hannes, daß es nun nicht mehr "ist", sondern "gleich" heiße. Wir seien ja schon groß.

Dies zu verdeutlichen, zeichnete er eine Waage und schrieb in die linke Schale zwei Einsen und in die rechte eine Zwei. Sie wögen gleichviel; was ich nicht einsehen konnte. Wichtig war ihm das KGV, das kleinste gemeinsame Vielfache. Wenn wir das nicht verstünden, dann kapierten wir auch alles Folgende nicht, bis hin zum Integral.

Klaus Greif, mein Nebenmann, hatte in Ordnung und Sauberkeit eine Eins. Er schrieb schöne vollrunde Zahlen. In jedes Kästchen eine. Nie unterstrich er die Ergebnisse "mit der Hand" wie Blomert das tat. Sein Füller war mit einer Pipette zu füllen, die Feder raus- und reinschraubbar. Damit schrieb er seine schönen Zahlen.

Er lieh mir ein Buch mit Zigarettebildern: Ruhmesblätter Deutscher Geschichte. Siegreicher Bajonettangriff der Kompanie Epp bei Onganjira am 9. April 1904. (Kamelreiter, die Hutkrempe an einer Seite hoch.) Und: Auf der Verfolgung der Simon-Copper-Hottentotten in der Wüste Kalahari.

Wen es zur Pause läutete, suchte er sich ein Opfer. Das nahm er in den Schwitzkasten und zerrte es zentaurenähnlich über den Flur. Manfred fragte, ob ich gesehen hätte, wie der den Blomert in den Kurven rumschleudere. Gräßlich, was? Der läge ja bald in der Waagerechten.

Manfred hatte einen Haro-Füller mit neuartiger Glasfeder. Die Kleckse, die er damit machte, stippte er mit einer Ecke des Löschblatts auf.

Vor mir saßen Struck und Stuhr; es war für die Lehrer mühevoll, sie auseinanderzuhalten.

Hinter mir Dicker Krahl. Er trug eine Taschenuhr mit Nickelkette. An dieser Kette hingen winzige Messer und Sägen, sein Vater war nämlich Fleischereibedarfshändler. In einer Lakritz-Tüte brachte er ausgestochene Kalbsaugen mit, die sollte Hannes untersuchen. "Sehr schon, mein Junge, leg das da man hin..."

In der Pause glühte er mit einem Brennglas Schnürsenkel an. Bei Fohmann gäb es Hitler sitzend. Der könne den Arm bewegen: "Sieg Heil!" Er habe Hitler jetzt doppelt. Ich kriegte von meinen Eltern immer nur Musiker, die gab es jetzt "im neuen Schritt".

Die Primaner durften auf dem Rosengarten promenieren. Die Lehrer reckten sich. "Wie die Tiere", sagte Hannes, wenn die Schüler grölten. Keiner merkte, was er durch Schnüffeln und Schnubbernn andeutete: Die Linden blühten, es roch nach Honig.

Im Kreis der 7 Linden, von denen die Schule ihren Namen hatte, tagte der Schüllerruderklub. "Wer fährt heute über?" wurde gefragt - da streckten einige ihren Daumen vor. Das bedeutete: Ich fahre heute über. (Auf die andere Seite der Warnow.)

Mein Bruder war von seinen Jachtklubfreunden umgeben.

In der himmelblauen kleinen Limousine
fährt das Glück, ein kleiner blonder Passagier...

https://www.youtube.com/watch?v=dQIoWL3Sg8Y

Bubi mit den gekräuselten Haaren, Heini im weißen Roll-kragenpullover und der vornehme Michael.

"Tadellöser & Wolff".

Mal sehn, was im Delphi anläge, vielleicht träfe er Marion, könne sein, daß die hier mal aufkreuze.

"Zatzig!"

Dann könnten sie ja mal einen wegmachen. Er gehe in die Veranda, Bubi könne das Herrenzimmer und Heini die Diele nehmen. Und Robert...

"Stüerman, lät mi an Land", sagte der.

Mich nannte sie Robert II. Was ich für einen komischen Pickel auf dem Hals hätte. "Oder ist das dein Kopf?"

Auf dem Heimweg schnallten wir uns den Tornister vor den Bauch und spielten Lok. Wer kann am schnellsten "Toni Leo"sagen? "Toni Leo, Toni Leo, Toni Leo..." Klaus Greif zog mit Blomert ab, den hatte er wie immer im Schwitzkasten. Hü! - Dicker Krahl fuhr auf seinem Rade stehend, "mein Moppe", wie er es nannte. Struck und Stuhr nahmen die Straßenbahn, die wohnten am Sportpalast. Ich warf mein Schulbrot in den Garten von Juwelier Dieken und machte, daß ich wegkam: Das Margarine-Gymnasium würde auch gleicch Schluß haben, und die Schüler hatten kahlgeschorene Köpfe..

Manchmal pfiff mein Bruder mich zurück.

Bei mir biste scheen...

"Hier, du Schleef, nimm mal meine Tasche und sag, ich komm' gleich." Er nähme es mir gut, wenn ich's täte. "Laß man, der Kleine iss ganz in Ordnung."

"Malsoweit!"

Hände waschen, Haare kämmen", wurde gerufen, wenn man in die Wohnung trat. Und dabei mußte man sich beeilen, denn: "Wer nicht kommt zur rechten Zeit, dem geht seine Mahlzeit queit."

Bei Tisch mußte dann der Schulbericht abgegeben werden. "Ansage mir frisch" Birnen, Bohnen und Speck. Ob die Duwe mit meiner Schwester wieder einen Pakt habe schließen wollen, und wie oft mein Bruder drangekommen sei.

Die Birnen hielten die Hitze, man wußte nicht, wie man den Stengel entfernen sollte. "Gib mal her, mein Peterpump." Ob er denn nun drangekommen sei oder nicht!?

Die harten Teile des Specks blieben einem zwischen den Zähnen stecken, das beengte sie.

Dr. Otterstedt habe nach der inneren Wahrheit gefragt, sagte mein Bruder.

Nach der inneren Wahrheit?

Ja, nach der inneren Wahrheit.

Der war im Krieg schwer verwundet worden, Zweihundertvierzehner, hatte oft starke Schmerzen.

"Aber tadellose Anzüge", sagte mein Bruder.

"Ja, gut dem Dinge. Klare Sache und damit hopp!"

Dr. Wolff sähe ja immer verboten aus, der kaufe bestimmt im Ausverkauf, die Taschen so ausgebeult und die Knie. "Faulmannsdörfter & Jennsen."

Der trage ja sogar Knikerbocker in der Schuhe, "wie isses bloß möglich. Daß da die Frau nicht drauf achtet." Total verbumfeit.

Dann müsse er sich auch nicht wundern, wenn er keine Disziplin halten kann.

Ob du's kannst - glaub's schon,
ob du's darfst - frakt sick.

Was für ein blöder Spruch.

"jija- jija."

Aus der Zeit der Wirtschaftskrise hatte sich eine "Fliegensuppe" erhalten, die gab es jede Woche. Wassergrieß mit einer Handvoll Rosinen. "Sauer eingekochter Greis." Meine Mutter schöpfte sie aus einer Terrine und gab acht, daß mien Vater ("typisch!") nicht die Zitronenschale bekam.

Wieviel der München-Riem denn nun wirklich koste, wollte er wissen. Ich solle mich mal erkundigen.



Tadellöser & Wolff - Walter Kempowski - 5. Kapitel














 
 
 





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Thursday 8 January 2015

KAPITEL 4

Sonntags gab es Puddings in Form von Trauben. Meine Schwester bestand noch mit ihren 16 Jahren darauf, von den Beeren und nicht vom Laub zu bekommen: Heißen Dung!

Nach Tisch wurde gedankt, das besorgte meine Mutter. Mein Vater sagte: "Amin-Amehn" und drückte mehrmals kräftig an den Tisch.

"Gott, Karl..."
"Was ist?"

Er erhob sich und lief gebückt zur Anrichte. Da stand die Keksdose, aus der er sich mit "Rollgriff" reichlich bediente. Das vers-tünde sie nicht, sagte meine Mutter, er habe doch nun eben gut und reichlich gegessen?

"Rede nicht, Weib!" Kekse füllten die letzten Risse und Schründen des Magens, und er zählte sie sich in den Mund.

Wir machten, daß wir ins Kino kamen. Dick und Doof als Elektrohändler. Mein Bruder immer ein paar Schritte voraus. Ulla packte mich im Genick und drehte mir den Kopf nach links oder rechts, je nachdem wo es langgehen sollte. Eile war nötig, denn zuvor mußte das Geld beim Großvater erbettelt werden.

Mein Großvater hatte sein Haus in der Steintorvorstadt zwischen den mit lachenden und weinenden Masken verzierten Villen von Konsul Böttcher und Konsul Viehbrock.

Lieferanten bitte den hinteren Eingang benutzen. Für seinen Rollstuhl wurde eine schiefe Ebene auf die Treppen gelegt.

Das Haus war sehr geräumig, zwei Etagen, alles Riesenzimmer, früher waren hier Feste gefeiert worden. Im Entrée eine Mahagoni-Vitrine mit Porzellan. Eine goldene Tasse, aus der die Königin Luise mal getrunken habe. Aber auch der kleine Stierbändiger aus Kopenhagener. Neben der Vitrine der Hocker mit dem Katheter. Nach den kleinen Rostocker Aquarellen kam der Museumdirektor gelegentlich fragen.

Der alte Mann saß im Erker und las. Eine Steinhägerflasche mit warmem Wasser auf dem Bauch. ("Der gute Alte".) Gingen Bekannte draußen vorbei, grüßte er sie freundlich und murmelte: "Du bist ok so'n oll'Morslock."

Wir stellten uns vor ihn hin. Er riß die Seite des Buches ein und klappte sie als Lesezeichen aus. Die letzten Tage von Pompeji. Dann kratzte er uns Volkslieder auf seiner Violine vor und erzählte ostpreußische Witze, wobei ihm das Gebiß herunterklappte. (Wir hatten Angst, daß wir sie nicht kapierten, und lachten viel zu früh.) In jüngeren Jahren habe er mal Ascheimer umgestoßen, deshalb sei er jetzt gelähmt. Dann nahm er seinen ausgekauten Priem aus dem Mund, mein Bruder, der Schnetzfink, der mußte die Hand hinhalten.

"Großvater, wir müssen nu gehn."
"Na, denn giv mi ma mine Tasch..."

Mit kraftlosen Fingern öffnete er die Ziehharmonika-Börse und grabbelte die Münzen.

"Ist das noog?" sage er und legte 5 fenig auf die Lehe seines Stuhls, als hätte er sie noch nie gesehen.

"Nee, Großvater."

"Dunnre di Düwel nich noch eins..." und wieder legte er eine Münze hin. Manchmal auch eine Fischschuppe, die er zu Sylvester ins Portemonnaie getan hatte, damit es nie leer wird.

War es "noog", dann griffen wir das Geld und rasten los. Die Treppen runterspringen, die Türen schmeißen. "Wetten, daß wir es nicht schaffen?"
"Darauf gebe ich dir Brief und Siegel."

Der Alte stieß mit dem Krückstock gegen das Fenster und schüttelte die Faust. "Petri fief, fief!"

(Das war eine Bibelstelle, fünftes Kapitel Petri, fünfter Vers: "Ihr Jungen, seid untertan den Ältesten...")

Wir schafften es immer. Wenige Minuten vor 2 erreichten wir die Ka-Li-Sonne, ein Kino, dem ein Tanzsaal angeschlossen war. "Swings tanzen verboten", stand auf einem Schild.

Kindergewühl. Es gongte und der Vorhang färbte sich grün, rot und orange. Unter dem schrillen Pfeifen der Kinder schütteten Stan Laurel und Oliver Hardy einem Lebensmittelhändler Eier über den Kopf. Und der ließ ihnen dafür die Taschenuhren durch die Zentrifuge laufen.

Neben Robert saß man das eben gesehen habe, ja? Hinterher hieß es, der Film sei epochal gewesen oder "prachtach".

Einmal gab es den Film "Morgenrot" mit Adele Sandrock. Das war ein Reinfall. Wir wollten immer lachen, aber da gab es nichts zu lachen.

Nach dem Kino ging es ins Lesecafé. Dort saßen Freunde vom Jachtklub.

Juden ungewünscht!

Heini, mit dem weißen Rollkragenpullover, Kupfermünzen am Uhrarmband, wahnsinnig kräftig; Michael, mit den hochschnüffelnden,, gelangweilten Allüren, dessen Vater, wie man sagte, einen echten Rembrandt hängen habe, völlig schwarz, nichts drauf zu sehn; und Bubi, ein "richtiger Junge", wie meine Schwester sagte. Bald würde wieder Ansegeln sein.

Er habe eine grauenhafte Entdeckung gemacht, sagte mein Bruder und klopfte die Taschen ab: Nichts mehr zu rauchen!

R 6, doppelt fermentiert, eine Ghiros klassisch manipulierten Pastals.

Ob ich die leere Schachtel kriegen könnte? fragte ich. Ich sei wohl vom Wahnsinn umjubelt? Ich sollte meine Sabbel halten und mich verdünnisieren.

In den Vorgärten abgeblühte Schneeglöckchen, Buchsbaum an Wegen, die niemand ging, rostige Eisenzäune, ein pinkelnder Hund.

Das Anstellen von Fahrrädern ist verboten.

Zeigte sich in der Ferne ein Junge, dann wurden Umwege gemacht. Über den Unterwall, auf dem die Bänke noch nicht angebracht waren. Durch die Schröderstraße, an der brüchigen Mauer einer Konservenfabrik entlang. Am Kellerfenster des Töpfers Wernike vorüber, in dem Öfen standen und ein grüner Uhu aus Steingut. Den kaufe er eines Tages und schmeiße ihn kaputt, sagte mein Bruder jedesmal, wenn er daran vorbeiging.

Ob im Wald, ob in der Klause,
Dr. Krauses Sonnenbrause.

Die Fabik war geschlossen, das Tor mit einer Kette gesichert. Im Treppenhaus das Minutenlicht: klickte. Ute war wieder mal bei ihren Großeltern.

Den Schlüssel zu unserer Wohnung entnahm ich vorsichtig der Milchklappe. Zum Aufschließen brauchte man erchien meine Mutter mit dem Kissenmuster auf der Backe: "Überschrift: die Mittagsruhe!"

Und dann erwachte womöglich auch der Vater: "Rotzlöffel!" In der Garderobe hing sein Teichhut. Daneben der Hut meiner Mutter, mit dem imitierten Vogel dran, der ständig vor ihrer Nase zu Boden zu stürzen schien.

Im Schirmständer Spazierstöcke: Einer, wie ein sonderbarer Regenschirm, zum Aufklappen und Draufsitzen.

Ich strich durch die Wohnung. Auf der Standuhr hat sich beim Umzug ein Pantoffel gefunden, den man vor Jahren vergeblich gesucht hatte. Die angeklebten Birnen am Büfett, in dem Kristall und eine Meißner Schale standen. Der Teppichsaum, den man als Straße für Mäklinautos benutzen konnte.

Wenn man Glück hatte, war noch Märchenstunde im Graetz. "Lasse, mein Knecht!" Meist aber nur: Sinfonische Dichtung von Sibelius. Im Bücherschrank links Luther und die Geschichte des Rauhen Hauses. In der Mitte Wiechert, Hesse und Ruth Schaumann. Aber auch die "Buddenbrooks" und "Professor Unrat" ("traun fürwahr"). Ganz unten Kunstbücher mit den unvergänglichen Werken großer Meister. Ich hatte sie mit Zettelchen versehen, damit ich nicht auf die Kreuzigungsbilder stieße. Judith mit den Haupt des Holofernes. Im rechten Schrank die Regimentsgeschichten; Chamberlain,, Stegemann und Lilly Graun.

Ans Notenregal brauchte man sich nicht zu machen. So verlockend die Einbände auch aussahen: Flöten und Geigen von Blumen umkränzt, drinnen herrschte die von großen Bogen zusammengehaltene Geheimschrift der Klavierspieler vor.

Auf dem Schreibtisch eine Intarsienmappe mit französischem Kalendarium. Aus der fielen einem sämtliche Briefe entgegen. Und die Zigarrenprospekt der Firma Loeser & Wolff. Mit Hilfe dieser Prospekte wählte mein Vater aus, welche Zigarren nur für ihn, auch nur für ihn und welche für Lieferanten zu bestellen waren.

Unten im Schreibtisch ein Kasten mit Fotos. Dicke braune meines Großvaters:

Den lieben Eltern zur Goldenen Hochzeit 1905, aber aucch dünnere neueren Datums, mit Büttenrand, von fröhlichem Picknick: Weinflaschen auf ausgebreiteter Decke. Der Hund sei in die Butter getreten, wurde erzählt. (Meine Mutter mit Herrenschnitt.)

"Mit de Pierd will'n Se noch na Rostock?"

Landkarten von Flandern. Die nahm mein Vater gern mit auf das Klo, um "die Lage zu klären", wie er sagte.

Leise, leise, fromme Weise...

"Meinen ersten Patrouillengang habe ich auch schon hinter mir", hatte er geschrieben, "meine Uniform sah hinterher aber aus! In einem Wassergraben bin ich entlanggehangen..."  Er liebte es nicht, wenn man eben vor ihm aus dem Klo herauskam. Dann war die Brille noch warm.

Nach dem Kaffee kam gewöhnlich Manfred, ein stiller Schulfreund. Einer mit Nickelbrille, der immer Käsebrote aß.

"Rothaarig, nicht?", sagte mein Bruder.

Er müsse erst seine Eltern fragen, ob er mit mir spielen dürfte, hatte er gesagt, als ich ihn zum ersten Mal einlud; er wisse ja gar nicht, was wir für Leute seien.

Seine Haut war dick und voller Sommersprossen; er konnte Nadeln hineinstecken, ohne was zu merken. Von einem Onkel hatte er Zinnfiguren geerbt: Azteken und Spanier, erstklassig bemalt. Sie lagen in Zigarettenschachteln, eine neben der andern. Jaguarkrieger und Langschwertkämpfer, Fußvolk im Sturm und fliehend, Sonnenradträger; Fallende, Tote. Meine Mutter, die die Figuren weit von sich hielt, meinte, die Azteken, das seien Leute gewesen, die gar kein richtiges Kinn gehabt hätten, ein Volk mit so Vogelköpfen. In der Volksbücherei hatte sich Manfred ein Buch geliehen: "Die Eroberung Mexikos".

"Halte mich sauber", spricht das Buch.

Das war illustriert. Steinerne, unendlich in sich verschlungene Gottheiten. Stufenpyramiden, mt der Sonne zugewandten Tempeln. Kolorierte Herzen im Schlund des Gottes Quetzalcoatl. Blutverkrustete Priester mit Obsindianklingen vor den sich aufbäumenden Opfern.

Hutzilopochtli, das war ein schwieriger Name. Als ich ihn endlich aussprechen konnte, wunderte ich mich darüber, daß sich niemand darüber wunderte.

Schwerverbrecher hatte man an ein hölzernes Gestell gebunden und ihnen die Gesichtshaut abgezogen, um die Raubvögel anzulocken.

Er kämpfe morgens immer mit seinen Kissen, sagte Manfred. Er boxe sie und reite auf ihnen. Vom Plumeau lasse er sich besiegen.

Wenn wir ungestört waren, führten wir Stücke auf. "Wie du mir, so ich dir", hieß eines. Er lag als Cortez auf der Couch und trat nach mir. Ich hatte die Ketten abzuschütteln, mich auf ihn zu werfen. "Freiheit" zu rufen und ihnauf aztekische Weise zu fesseln. ("Zieh doch fester an"") Dann mußte ich höhnisch rufen: "Wie du mir, so ich dir!" Beim ersten Mal meinte er: "Wie du mir, so ich dir" - er glaube, er könne diesen Hohn nicht ertragen. Aber, wir wollten es ruhig mal versuchen, er sei direkt neugierig, ob er's aushalte.

"Wie - du - mir...": Jedes einzelne Wort schien ihn zu vernichten.

O Gott nein, er halte es nicht aus, sagte er und rollte mit den Augen, das sei wirklich schwer zu ertragen, dieser Hohn! Aber ich solle trotzdem mal ganz behutsam weitersprechen. Er sei neugierig, ob er's schaffe.

Dann mußte ich ihm mit einem Lineal auf die Schenkel schlagen, leicht, locker, bis sie sich röteten und immer roter wurden. Ob's noch gehe? fragte ich. Ja, mach weiter, weiter.

Endlich wollte er unter das Bett geschoben werden. Ich mußte ihm Brot nachwerfen, das er mitden Zähnen griff. Der Gedanke, ich ginge womöglich fort und ließe ihn da allein, sei entsetzlich, sagte er. Ich sollte mal bis zur Tür gehn. ob er das wohl aushalte?

Einmal drückte ich ihn in die Besenkammer und schloß die Tür. Ich holte den gelben Onkel aus der Garderobe und schlug mehrmals kurz und kräftig hinein. Der blecherne Aufnehmer schepperte, und der Mop fiel herunter. Das sei ja grauenhaft, rief er. Wie ich denn auf die Idee gekommen sei? Das überrasche ihn aber sehr!

"Na, Huitziloportlo?", sagte meine Schwester beim Abendbrot. "Du glühst ja so."

Er gebe ihr Brief und Siegel, sagte mein Bruder, daß wir wieder getobt hätten. Ich wär 'ne Geißel der Menschheit. Aber, daßdie Azteken Vogelköpfte gehabt hätten, verweise er in das Reich der Fabel.

Was Kohlöppvehna heiße, wollte mein Vater von mir wissen und: Urselchen, mein Kind, mach doch nochmal den Mecklenbruger Büffelskopf nach."

Die Lebenswurst schmecke übrigens hervorragend.




Tadellöser & Wolff - Walter Kempowski - 4. Kapitel

 


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Tuesday 6 January 2015

KAPITEL 3

Mein Vater "liebte seine Heimatstadt", wie immer gesagt wurde. Er war Mitglied des Vereins für Rostocker Altertümer und besuchte dessen Vorträge regelmäßig: "Die Exerzitien der Bürgergarde" oder "Rostocks Soldaten im 30jährigen Kriege".

Mit Platt sei er in Flandern ganz gut zurechtgekommen.

Sonntags, während meine Mutter den Braten begoß, ging er mit uns spazieren. Die rechte Hand auf dem Rücken, mit der linken den Spazierstock führend, mal nach vorn und mal nach hinten. Da er viele Leute kannte, zog er dauernd den Hut.

Mit Kaufleuten redete er über Courtage, Tons und Dividende; zu Damen sagte er "Meine Gnädigste" und küßte ihnen die Hand. Er selbst wurde mit "Herr Kempowski" angeredet oder mit "Körling". Wir standen inzwischen am Rinnstein und kuckten, ob wir an den Gitterfenstern des Gefängnisses nicht vielleicht ein bleiches Gesicht ausmachen könnten.

"Nehmen Sie mich mit, Herr Kempowski", rief auf der anderen Straßenseite ein winkender Mann mit Hasenscharte. Das war Dr. Heuer.

"Auch das noch", sagte mein Vater. "Na, wie geht's?"

Einmal wurde er von einem betrunkenen Seemann angesprochen. Da behielt er seinen Handschuh an. "Man weiß nie, was diese Leute angefaßt haben", sagte er. Als junger Mann hatte er einmal einen Kapitän im Bordell auslösen müssen, dem hatten sie die Hosen ausgezogen, weil er nicht bezahlen konnte.

Von Rostock sagten die Leute, es sei zwar weniger als Lübeck und Hamburg, aber mehr als Wismar und Stralsund. Eine Stadt, die seit Jahrhunderten von schlechten Baumeistern verhunzt wurde. Wunderbar, daß ie trotz allem noch gewisse Reize hatte. Das Steintor zum Beispiel, in dem es nach Männerpisse stank: Wenn die Straßenbahn da durchfuhr, mußte sich der Stromabnehmer quetschen. "Wie die Soldten hier wohl früher die Zugbrücke runtergeknallt haben".

Oder das Kröpeliner Tor, von einem Gotiker mit Türmen und Bögen versehen und mit Bänken, auf denen alte Männer Skat spielten. "Un ick har doch dat Aß speelen möst...", die Pfeife mit einem Gummiring vor dem Herausfallen aus dem zahnlosen Mund bewahrt. Daneben, eingebettet in das Gebüsch der Wallanlagen, ein Wanderknabe aus Granit, ein liegender Goethe in Italien etwa, aber ländlicher.

Die Türme der Kirchen waren entweder zu groß oder zu klein.

Die klotzige Marienkirche, ein Bau-Ungetüm mit gewaltigem Westwerk, groß genug, um drei Türme zu tragen, oben rasch und behelfmäßig mit einem hühnerkopfähnlichen Helmchen abgeschlossen.

"Wie eine Glucke mit ihren Küchlein". Und St. Petri, eine Kriche, die fast nur aus Turm bestand. Heute könnten die Leute sowas nicht mehr bauen, wurde behauptet. Über die Zusammensetzung des Mörtels gingen wunderliche Gerüchte um.

In der Hauptpost leerte mein Vater das Schließfach 210. 201, das war seine Regimentsnummer gewesen. ("Helden wollt Ihr sein?")

Er sah die Briefe flüchtig durch - "allerhandlei" - und stopfte sie in die Tasche.

Die gotische Hauptpost lag am Rosengarten, einem Überrest der Wallanlagen. Früher führte ein schräger Weg dahin. Als der aufgehoben wurde, stiegen die Leute unter Protest über die Absprerrungen.

Neben der Hauptpost stand das Kriegerdenkmal der goer. Dort zeigte er uns die Namen "Pingel" und "Topp", die sonderbarerweise direkt untereinander standen.

"Hurrah!" hätten die Senegal-Neger gerufen. Und Flieger, die wären am ekelhaftesten. Da könne man nicht weglaufen.

Ob er mal Feinde totgeschossen habe?

Nicht daß er wüßte, er habe immer nur so ungefähr in die Richtung gehalten. Das seien dann so schwarze Punkte.

Vom Kriegerdenkmal, über den Wall zum Hafen runter, ob noch Schiffe eingetroffen sind. Den befreundeten einen kurzen Besuch abstatten, "Brennevin". Die feindlichen flüchtig mustern.

"Käpt'n" durfte man nicht sagen und nicht "Pott" oder "Kasten".

Neben dem klassizistischen Mönchentor - über dem Torbogen ein Löwenkopf mit offnem Maul und auf dem Dach eine Art Schüssel aus Bronze - lag unser Geschäftshaus. Auf Ansichtskarten war ein Stück davon zu sehn. Früher war es eine Kneipe gewesen, der Bierkeller mit Falltür war noch vorhanden.

Mein Vater ging ins Kontor und telefonierte. Courtage, Tons und Dividenden. Wir drehten inzwischen an der Kopierpresse. "Du wirst lachen", sagte mein Bruder, "das Ding funktioniert noch immer. Halt mal'n Daumen drunter".

Auf dem Schreibtisch des Prokuristen ein Pflasterstein als Briefbeschwerer. An der Wand: Hitler, Hinderburg und Bismarck übereinander.

Dan ging es die Mönchenstraße hinauf, Richtung Neuer Markt. An den Straßenecken Kanonenrohre, damit die Häuser von den Fuhrwerken nicht beschädigt würden.

"Hier hat Fritz Reuter mal gewohnt".

Häuser und Schuppen ineinander verschachtelt. Auf den flachen Teerdächern Zäune, Wäschepfähle und hohe Blechschornsteine.

"Erste Vakuum-Dampf-Zucker- und Bonbonwarenfabrik", stand abgeblättert und verwaschen an einer Mauer.

In den Fenstern zu ebener Erde Kakteenschalen mit kleinen Pagoden und Brücken. Kneipen: Kum rin, kannst rutkieken. Hin und wieder ein schöner Treppengiebel mit Speicherluken und Rollen. Aber die Fotografen hatten zu zirkeln, wollten sie die auf die Platte bekommen.

Auf dem Neuen Markt wurde die Stelle gezeigt, wo früher mal ein Brunnen gestanden hatte, und unter dem Rathaus, an einem Pfeiler, eine kleine Schlange, deren Herkunft und Zweck unerfindlich war.

Um 12 Uhr war Platzkonzert. Das fand am Denkmal Friedrich Franz III statt, unter der Eiche von 70/71. Väter mit Kleinkindern auf den Schultern. Der Stabsmusikmeister hinkte. Er schnauzte die Zuhörer an, wen sie drängten. Ouverture zur Diebischen Elster. "Mensch, blasen Sie fis!"

Ich kuckte mir die Zugposaunen an, die stets anders gezogen wurden, als man meinte, daß sie gezogen werden müßten. Der Oboist, ein Gefreiter, hatte Watte in den Ohren.

War abgeklopft, dann packten die Soldaten ihre Instrumente ein und fuhren mit der Straßenbahn in die Kaserne zurück.

Auf dem Nachhauseweg hielten wir nach "Typen" Ausschau, Naturmensch Herbig etwa, der, wie es hieß, sonntangs mit einer Geige im Rucksack nach Kösterbek spurtete. "Das ist auch so eine Existenz".

Oder Professor Totenhals, der sich immer die Ohren zuhielt, wenn er über die Straße ging.

Einmal kam uns ein Mann entgegen, der ging recht gebückt. Warum der wohl so gehe, fragten wir.

"Dem haben seine Söhne so viel Kummer gemacht", sagte mein Vater.

Im Treppenhaus roch es bereits nach Braten, und wenn die Etagentür aufgeschlossen war, hörte man das Silber klirren.

"Malsoweit!"

"Schön, daß ihr kommt, ich wollte grade aufgeben."


Tadellöser & Wollff - Walter Kempowski - 3. Kapitel.






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