Saturday 3 January 2015

KAPITEL 2

Unter uns, in der ersten Etage, wohnte Woldeman, ein wohlhabender, beleibter Holzhändler. Er trug sein schwarzes Haar - blank wie Lackschuhe - zu einem scharfen Mittelscheitel frisiert. Am kleinen Finger einen Ring mit blauem Stein.

"Na, du Brite?", sagte er zu mir mit tiefer Stimme und langte sich eine der offnen Weinflaschen, die überall herumstanden. Ohne Glas trank er daraus, in langen Zügen.

Im "Herrenzimmer" Übergroße Sessel mit angenähten Kissen, komfortabler als bei uns, auch der Teppich größer, und die Bilder dazu passend. Neben dem Rauchtisch ein schwarzes, kommodenartiges Grammophon. Vorn eine Art Tor um Herauslassen der Musik.

Ist sid nicht süß, ist sie nicht lieb,
ist sie nicht nett, das Fräulein Gerda...

Auf dem Grammophon eine Wachspuppe unter Zelluloid. Die trug ein Spitzenkleid.

"Filigran", sagte meine Mutter.

An der Wand ein Hühnerhof in Öl: der schwarze Rahmen doppelt so breit wie das rosa Bildchen.

Morgens saß Woldemann im Hausmantel am Kaffeetisch. Er ließ die Drehscheibe rotieren, auf der Marmelade und Honig standen.

Das Ei aß er mit silbernem Löffel. ("Ei mit Silber? Das beschlägt doch!")

Vom Milchkännchen leckte er die Tropfen schmatzend ab.

Jeder wär froh, jeder wär stolz,
wenn er sie hätt, das Fräulein Gerda...
https://www.youtube.com/watch?v=hYrWMjBQMzI

Das Brötchen aßer mit Messer und Gabel.

Die Frau war jung und unternehmungslustig. "Woldi", sagte sie zu ihm.

Während das Grammophon dudelte, ging sie in der Wohnung auf und ab, von einem Pralinenkasten zum andern, drehte sich die Haare und puschelte mit einem Flederwisch die Kopenhagener Figuren ab.

Mein Vater brülle ja immer so doll, wer denn mit "Rotzlöffel" gemeint sei?

Ihre Tochter Ute war 9 wie ich.
Schwarzer Pagenkopf und dunkelblaue Augen. Abgesehen von wenigen Schmolltagen waren wir ständig zusammen. Meist lag ich auf dem Teppich, und sie saß mir auf dem Bauch. Schön warm war das und gemütlich. Ich zog sogar die Beine an, damit sie sich anlehnen konnte. Sie wiegte sich dann ein wenig und bohrte in der Nase.

(Beim ersten Mal hatte ich ich noch gewehrt. Das Oberteil meines Hamburger Anzugs war dabei von der Hose gesprungen.)

Alle Möbel lernte ich auf diese Weise von unten kennen: den Couchtisch mit den vom Tischler nur grob befestigten Beinen, die Sessel mit Gurten, denen der Möbelträger ähnlich, den Papierkorb, der immer faulig roch, weil man Apfelschalen hineingeworfen hatte.

Einmal hatten wir Streit: was bedeuntender wär, das männliche oder das weibliche Geschlecht. Der Vater würde übertroffen durch die Regierung, sagte sie, mit dem Finger herzählend; und der Kontinent durch die Erde. Aber die Welt durch den Gott, antwortete ich, und der sei männlich.

Alle Leute bleiben plötzlich stehn,
um dem süßen Mädel nachzusehn...

Wenn die Mutter sich auf dem Flur hören ließ, spritzten wir auseinander.

"... sonst kriegt ihr eine geschwalbt", sagte die.

Hinter dem Haus war eine Selterswasserfabrik, sie gehörte unserm Hauswirt.

Ob im Wald, ob in der Klause,
Dr. Krauses Sonnenbrause.

Wir setzten uns in Flaschen kisten und fuhren auf den Rollenband hinein. Durch düstere Schuppen ging es, an Buchten mit leeren Flaschen vorüber. Gespensterbahn!

In einem gekachelten Werkraum sprangen wir ab. hier wurde die Sonnenbrause abgefüllt. Arbeiter mit Gummischürzen standen am Band und sahen zu, wie die Flaschen ruckend der Reihe nach aufmarschierten und von der Maschine vollgefüllt, zugekorkt, umgeworfen, etikerriert und in Kisten gerollt wurden. Der Hebel, der die Flaschen umwarf, war gepolstert. Von unten kam ihm ein zweiter entgegen, der empfing sie sanft. Ab und zu zerbarst eine Flasche mit dumpfem Knall. Dann regnete es Splitter.

Die vollen Kisten lagerten im Keller. Hier war es kühl. ute wußte, wo die Waldmeisterbrause stand. Auf einen Zug tranken wir sie aus - "wer zuerst fertig ist" - und rülpsen.

Im Büro roch es nach Tabak und Pfefferminz. Hier zeichnete Fräulein Reber, vom Skisport gebräunt, blitzchnell Belege ab. "Reber", den Namen könne man auch von hinten lesen, sagte sie. Ihr Bruder, Flieger bei der Legion, der heiße sogar Otto!

Sie schenkte mit ein Liederbuch: "Von Jungen Trutz und Art" hieß das. Ob ich auch mal ein kräftiger Pimpf werden wollte? Ute kriegte "Spinnerin Lobunddank, ein neu Mädchenliederbuch".

Der Morgen hat geschlagen,
die dunkle Nacht zerbricht.
Auf, Herz, zu neuen Tagen
ruft dich das junge Licht.

"Ich will einen Liter Korn", sagte ein Besoffner, der gerade hereinkam.

An der Wand hing Clausewitz.

Dr. Krause durften wir nicht begegnen. Der schritt in Reithosen über den Hof. Hier stand eine Tür offen, dort lag Papier. Moglicherweise würde man beim Zimmern der Flaschenkisten Nägel einsparen können. Um die Güte seines Brunnen zu demonstrieren, ließ er einen Zinkeimer vollaufen. "Klar wie Kristall." Rostocker Leitungswasser stellte er daneben. Verblüffend! Eine lehmige braune Brühe. Im Leitungswasser schwimme direkt Kot, sagte er.

Witschorek, der BOB-Fahrer, war immer darauf aus, uns zu vertrebien. Er stammte aus dem Sudetenland. "Egerländer halt`zusamma..." sang ich mal aus Quatsch. Da fing der Mann bald an zu weinen.

Immer gern gesehnwaren wir bei Kutscher Boldt. Vergnügt pfeifend mischte er Hafer und Häcksel, goß auch etwas Apfelbrause hinein. 36 Mark die Woche verdiente er.

Mein Vater gab mir angestoßene Zigarren für ihn.

Der Schimmel "Max" war ein "Kriegskamerad". Dr. Krause hatte ihn aus Galizien mitgebracht. Unter dem Schild "Kriegskamerad" hing ein Eisernes Kreuz aus Pappe. Auch Schiffe hätten im Weltkrieg das Eiserne Kreuz verlieren bekommen, und Meldehunde. Wir mieden Max, denn er war bissig.

Harmlos war die dicke Stute Nora.
Nore, am Brunnen vor dem Tore,
sagte Kutcher Boldt
Sie zog etwas stärker als Max.
https://www.youtube.com/watch?v=k3KTivJX_iQ

Gegen Abend, wenn wir genug getrunken hatten, gingen wir rein. Da spielten wir Verteck im Dunkeln, und bald lagen wir auch schon wieder auf dem Teppich. Die Lichter der vorüberfahrenden Autos schoben sich über die Decke. Im Bauch gluckste es.

Is sie nicht süß, ist sie nicht lieb,
ist sie nicht nett...

Ute wiegte sich ein wenig hin und her. Horchen, ob die Eltern nicht kommen. "sonst krieg ihr eine geschwalb."

Ob ihr Vater "höher" sei als mein Vater, erörterten wir, oder Dr. Krause, ob der vielleicht höher sei.
"tüllich", sagte sie statt "natürlich".

Beim Abendessen fragte meine Mutter: Junge, wie siehrst du bloß aus? Wie Buttermilch und Spucke."

Und Robert sagte kopfschüttelnd: "Wie haben sie dich, Baum, verschnitten..."

Die Teewurst schmecke übrigens recht ordentlich.




2. Kapitel - Tadellöser & Wolff -Walter Kempowski



http://www.fernandezbaladron.com/

 








 
 
 
 

 
 
 

 
 

 











No comments:

Post a Comment